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(Auszug):
Modis offenes Geheimnis

Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt: Zehn Jahre, nachdem sie in Ayodhya die Babri-Moschee dem Erdboden gleichgemacht hatten, wollten Hindu-Nationalisten an eben jener Stelle den Grundstein legen für einen Ram-Tempel, eine Provokation für die indischen Muslime. Hundert Tage lang sollten aus dem ganzen Land Anhänger der radikalen Hindu-Organisationen, sogenannte Karsevaks, nach Ayodhya reisen, um dort zu demonstrieren. Als am Morgen des 27.2.2002 der Sabarmati-Express nach Ahmedabad mit fünf Stunden Verspätung in Godhra eintraf, war er überfüllt mit Heimkehrern. Trunken von Hassparolen und zum Teil mit Schlagstöcken und Dreizacken bewaffnet, hatten sie schon auf der Hinfahrt keine Gelegenheit ausgelassen, Muslime im Zug oder in den Bahnhöfen zu beleidigen, zu bedrohen oder zu misshandeln. Godhra galt aber seit Langem als ein Zentrum des Konflikts zwischen Hindus und Muslimen. Die Lunte am Pulverfass war gelegt.


Der Godhra-Zwischenfall Auf dem Bahnsteig soll es zu einem Streit mit den Teehändlern gekommen sein, die angeblich angesichts des brechend vollen Zugs ihre Preise erhöht hatten. Mehr noch sollen die Hindu-Extremisten einen Mann mit Bart geschlagen und zwei muslimische Mädchen zu entführen versucht haben, letzteres allerdings ohne Erfolg. Darauf hätten Muslime im Bahnhof begonnen, die Fanatiker mit Steinen zu bewerfen, von denen nicht alle den nach wenigen Minuten wieder anfahrenden Zug rechtzeitig erreichten, was vermutlich der Grund dafür war, dass unmittelbar außerhalb des Bahnhofs mehrere Notbremsen gezogen wurden. Von immer mehr Muslimen verfolgt, stürzten die letzten Karsevaks fluchtartig in Wagen S-6 und versperrten die Türen von innen mit Gepäck. Die ersten Steine durchschlugen die Scheiben und verletzten Insassen, sodass die Rolläden heruntergelassen wurden. Zwar setzte sich der Zug wieder in Bewegung, kam aber wenig später vor einem Signalhaus erneut zum Stehen. Dort wurde Waggon S-6 von einer aufgebrachten Menge umlagert, die ihn anscheinend in Brand setzen wollte, um die Passagiere, die sie nach wie vor in Verdacht hatte, ein muslimisches Mädchen entführt zu haben, zum Aussteigen zu zwingen. Kaum eine halbe Stunde war seit der Ankunft des Zuges in Godhra vergangen, als in Wagen S-6 tatsächlich Feuer ausbrach, möglicherweise von einem brennenden Lumpen verursacht, den die Angreifer durch eines der zerbrochenen Fenster in den Wagen geworfen hatten. Auch soll in dem Waggon, der sich in eine tödliche Falle verwandelt hatte, auf offener Flamme gekocht worden sein. Erst als das Feuer gelöscht war, wurde das ganze Ausmaß der Tragödie sichtbar: 59 Menschen waren erstickt oder verbrannt, darunter viele Karsevaks, vor allem aber Frauen und Kinder.
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